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züritip Nr.31 Juli/August 1994 Zürcher Rap: Primitive Lyrics
Primitive Lyrics haben sich einen hervorragenden Ruf als Live-Band erarbeitet und Zürich endlich auf die Schweizer Karte des Hip Hop gesetzt. Sie spielen im Vorprogramm der baskischen Punk-Rocker Negu Gorriak in der Roten Fabrik.

Der Übungsraum in einem Höngger Schulhaus könnte aus dem zig tausendmal geschriebenen Roman «Die Leiden einer jungen Band» stammen. In diesem Paradeexemplar eines muffigen Luftschutzkellers herrscht ein emsiges Treiben. Der Enthusiasmus der Band erinnert an einen Sonntagabend in der Roten Fabrik: Damals spielten A. D., ein bekannter Rap-Act aus New York, der Geburtsstadt des Hip Hop. Der Klubraum war schon brechend voll, als die Vorgruppe aus dem Grossraum Zürich die Bühne betrat. Es war ein ziemlich chaotischer Haufen, der da auf der Bühne rumwieselte und eigentlich noch mehr Platz gebraucht hätte, um sich richtig auszutoben. Aber die Primitive Lyrics fanden sofort den Draht zum Publikum. Sie sprachen dieselbe Sprache, hatten dasselbe Alter und stahlen den Stars aus den USA komplett die Show.

Spontaneität, Freude am Experimentieren, sich nicht festmachenlassen und ein wenig Chaos ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte und die Musik der Primitive Lyrics (PL). 1991 kamen Rapper Baumee und Bassist Watezz, der erst wegen PL anfing, Bass zu spielen, auf die Idee, für eine Party eine Band auf die Beine zu stellen. Es fanden sich noch andere spontane Chaoten, und Primitive Lyrics waren geboren. Aus Spass wurde (mehr oder weniger) Ernst. Anfang 1993 waren PL auf der Werkschau einheimischen Hip-Hop-Schaffens, dem "Fresh Stuff 3"-Sampler zu hören. Wie andere Beteiligte auch, waren sie mit der Aufnahme und der finanziellen Regelung n zufrieden: "Wir investierten 2000 Fr. in die Aufnahme, die qualitativ völlig unbefriedigend ist. Der Tontechniker war unfähig und behauptete, der einzige Fehler, den er gemacht habe, sei, uns überhaupt ins Studio gelassen zu haben", erzählt Drummer Koni. Mittlerweile haben PL in der ganzen Schweiz gespielt und mit «Halbi Nüni Chlorzicht» ihr erstes Album veröffentlicht. Für DJ Kay-Zee war es überraschend und aufbauend, als ihm neulich am Züri Fäscht seine eigene Band aus dem Lautsprecher entgegendröhnte: «Das gibt Kraft und Selbstvertrauen.»

Originelle Besetzung

Primitive Lyrics pflegen einen harten, vorwärtsgerichteten und mit funkigen Elemen versetzten Hip Hop, der zwar manchmal holprig wirkt, aber mit viel Energie Iosbollert. Dies ist vor allem auf die für Hip-Hop-Bands unübliche Besetzung zurückzuführen, die neben Rapper und DJ auch Bass, Gitarre, Saxophon und Schlagzeug beinhaltet. «Diese Besetzung gibt uns mehr Druck. Wir können vielseitiger und mit mehr Energie spielen», meint zweite Rapper RedI. «Wir sind offen für alles fügt Kay-Zee hinzu. Die Spiel- und Experimentierfreude der PL kommt vor allem live zur Geltung. Aber auch ihre Stücke wachsen in einer ähnlich spontanen Atmosphäre heran. "Die Musik entsteht in Sessions. Nichts ist geplant. Wir fangen einfach an zu spielen und sehen, was sich herauskristallisiert", schildert Koni die Arbeitsweise der Band.

Primitive Lyrics sind keine homogene Truppe. Der eine hört Hip Hop, seit er die Knöpfe des Radios bedienen kann, der andere kommt vom Rock, einer ist Soziologie-Student, zwei andere sind Bankangestellte. Gemeinsam ist ihnen jedoch die politische Ausrichtung. «Hip Hop bietet die Möglichkeit, Musik zu machen, die einfährt, aber auch Texte mit einer Message zu vermitteln», sagt Koni. PL spielen in besetzten Häusern und machen in ihren Texten den «Blick», Drogen und Faschismus zum Thema. Naheliegend also, dass sie sich in ihre Musik von niemandem dreinreden lassen wollen und deshalb das Album in Eigenregie produziert und bei einem, unabhängigen Vertrieb veröffentlicht haben. Damit und indem sie strikt auf «züritüsch» rappen, verbauen sie eventuell die Chance auf grösseren Erfolg, was sie aber nicht gross stört. «Wenn man um Erfolges willen Kompromisse eingeht und englisch zu rappen anfängt, dann verliert an Glaubwürdigkeit, und die macht einen grossen Teil unseres Erfolges aus», stellen PL ihren Standpunkt klar. Trotzdem finden auch sie "viele verkaufte Platten und tolle Konzerte" angenehm. Und - wer weiss - vielleicht geht sogar einmal ihr grösster Wunsch in Erfüllung: ein gemeinsamer Auftritt mit den Beastie Boys.

PHILIPP ANZ

PL- wer sonst?

Bild: Doris Fanconi

Primitive Lyrics: Die ursprünglichen Texte

«ZWÜSCHED EGO UND NIRWANA»

Der Bandname Primitive Lyrics verweist auf die Texte, geschrieben von den beiden Rappern Baumee und Redl. Lyriker nennen sie sich im Booklet ihrer CD - und sind es auch, wenn sie über sich reden.
«Sali mitenand mir sind Primitive Lyrics / Hip Hop mached mir und sind luschtiger als Comics / die ganz Primitive, das sind mir / mal doof, mal cool und öpemal bizzii wirr / immer ä bizzli andersch, aber sicher nie gliich / rappe macht mich wild, aber wahrschinli nie riich.» So stellen sich die Musiker von Primitive Lyrics dem Publikum in dem Stück «Odyssee» vor, direkt und selbstbezogen, ironisch und bescheiden. Auf ihrer ersten CD «Halbinüni Chlorzicht» (gemeint ist Chlorgsicht), die ausschliesslich Texte in Mundart versammelt, finden sich einige Stücke, die sich durch diese selbstauferlegte Beschränkung bestechen. An Stellen, wo die Zürcher in die Ferne schweifen, ist der Witz mit dabei: «Mir mached Chaos in Laos, mir jaged Bern uf en Stern.» So manche Schweizer Band singt englisch, weil man die deutschen Texte nicht aushalten wurde; sie, die Texte, sind bloss zum überhören da. Gibt sich eine Gruppe auch in ihren Songtexten zu erkennen, ist dies bereits ein Schritt, der Respekt verdient, selbst wenn die poetische Kraft und Dichte der Geschichten nicht das Niveau von «Patent Ochsner» erreicht - oder von «Baby Jail», deren Hinterlassenschaft aus einigen brillanten Dialekttexten besteht. Die Provinzialität unserer englisch textenden Bands liegt ja gerade in ihrer Unterwerfung unter das Diktat der Weltsprache: Man lässt sich einnehmen, um erfolgreich dabeizusein. Mit der deutschsprachigen Kultur, in der wir im Moment zumindest noch leben, hat das dann allerdings wenig zu tun.

Stark sind Primitive Lyrics dann, wenn sie eigene, und seien es auch triviale, Geschichten erzählen, etwa in ihrer Hymne aufs Lettenbad: «Alpamare hi, Costa Brava her / s' Lättä schlat alles, schlat härter als Snare.» Oder wenn sie die Novemberdepression beschreiben, bei der die Verwirrung in der Mehrzahl angreift. Da werden sieben Musiker ihrem Namen gerecht. Problematisch wird es dann, wenn grosse gesellschaftspolitische Fundamentalkritiken hinuntergerappt werden kulminierend in Platitüden wie der Aussage: «Früener oder spöter / zerschlömmer de Staat.» Das klingt dann so wie in der Käseabteilung: Wie hätten Sie's gern, am Stück oder geschnitten? Auch philosophische Weggabelungen zwischen These und Antithese in dem Stück «Nüüt» führen ins Unterholz. Primitive Lyrics sollten «zwüsched Ego und Nirwana» das kleinere Übel wählen: das Ich. Lieber sieben Zwerge hinter den sieben Bergen als sieben Denker auf einer Bühne.

Das Stück «Tescht» ist ein Glücksfall: Die Verbindung von eher grossen und kleinen Themen scheint hier mühelos zustande gekommen zu sein. Allgemeine Aussagen kommen mit einem Augenzwinkern daher, bestimmt und doch locker, etwa wenn es am Anfang heisst: "Jetzt isch es Ziit, mir chönd's eu säge / das Läbe wo ihr läbed, das läbed ihr vergäbe / s'isch alles nur ein Bluff gsii, en blöde Scherz». Gerade weil Unklarheiten bleiben, kann man solche Songtexte, die mit reizvollen Stabreimen und inhaltlich wichtigen Lautähnlichkeiten arbeiten, immer wieder anhören: Wieso erfahren wir das erst jetzt, fragt man sich, und: Wer spricht denn überhaupt zu uns, Primitive Lyrics oder etwa gar ein höheres Wesen - und wo bitte liegt da der Unterschied

GUIDO KALBERER

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